Kolumne 2
Der Schachberuf als Notlösung
Lange war es ruhig um Emanuel Lasker (1868-1941). Eine neue Biografie und eine Konferenz erinnerten an den einzigen deutschen Schachweltmeister.
Von Stefan Löffler, Potsdam
Nachdem sein Sohn Berthold als Medizinstudent in Berlin Fuss gefasst hatte, schickte Adolf Lasker auch seinen Jüngsten in die Hauptstadt. Doch Emanuel widmete sich zu viel dem Schach. Sein letztes Schuljahr musste er nahe dem Elternhaus in Landsberg absolvieren. Einen Abbrecher konnte sich die Familie eines armen jüdischen Kantors nicht leisten.
Auf das Abitur folgten drei Semester Mathematik in Berlin und Göttingen. Dann ging das Geld aus. Endlich gab es einen Grund, ans Brett zurückzukehren. Emanuel Lasker zog nach England und in die USA. Binnen drei Jahren schlug er Weltmeister Wilhelm Steinitz.
Bei Durchsicht von Emanuel Laskers Biografie scheint ihm der Schachberuf zeitlebens eine Notlösung gewesen zu sein. Bald nach seinem Titelgewinn wandte er sich wieder der Mathematik zu. Er promovierte, spielte gelegentlich Schach, redigierte die "Deutsche Schachzeitung" und bemühte sich um eine wissenschaftliche Laufbahn. Trotz ansehnlicher Publikationsliste und einem Beitrag zur modernen Algebra (laskerscher Zerlegungssatz) kam er nicht über eine Assistentenstelle hinaus. Mit 36 gab er seine akademischen Ambitionen auf.
Es wird oft betont, dass Lasker länger als jeder andere Weltmeister war. Doch während dieser 27 Jahre ist er nur kurze Zeit wirklich aktiv gewesen. Zwischen 1907 und 1911 verteidigte er seinen Titel in fünf Wettkämpfen. Sich auf Schach zu konzentrieren, genügte Lasker indes nicht. Angeregt durch seine Ehefrau, die Belletristin Martha Bamberger, begann er zu schreiben. Seine Veröffentlichungen über Philosophie, Kultur und Politik, die der Schachwelt bisher wenig bekannt waren, sind nun von einigen jungen Wissenschaftlern aufgegriffen worden.
Patriotische Kommentare
Die vage Idee, eines Tages über Lasker zu forschen, hatte der Historiker und Bundesligaspieler Ulrich Sieg bereits als Abiturient. Zum Schulabschluss bekam er die einzige umfassende Biografie Laskers, eine Heiligenverehrung im Stil der Vorkriegszeit von dem Österreicher Julius Harnack. Bei Forschungen über die Haltung jüdischer deutscher Intellektueller zum Ersten Weltkrieg ist Sieg wieder auf Lasker gestossen.
Der Weltmeister nutzte seine Schachkolumnen zu patriotischen Kommentaren. Deutsche Eroberungen in Nordfrankreich verglich er mit einem Springervorposten auf f5. Schachmetaphern finden sich auch in Laskers philosophischen Schriften, angefangen mit "Kampf", einem schwer verdaulichen Essay, den er 1907 im Eigenverlag auf Deutsch und Englisch publizierte. Später ging er dazu über, Verleger, die von ihm Bücher über Schach und andere Denkspiele wollten, zur Herausgabe seiner Philosophie zu bringen. "Die Philosophie des Unvollendbar" (1919), die Lasker für sein wichtigstes Werk überhaupt hielt, ist von seinen Zeitgenossen ignoriert worden. Ein Schauspiel, "Vom Menschen die Geschichte", das er 1925 gemeinsam mit seinem Bruder Berthold veröffentlichte, kam nie zur Aufführung.
Im gleichen Jahr spielte er in Moskau für lange Zeit sein letztes Turnier. Als er zwei Jahre später nicht nach New York eingeladen wurde, hielt Lasker seine aktive Karriere für beendet. Er gründete in Berlin eine "Schule für Verstandesspiele" und widmete sich Go, Bridge und erfand ein Brettspiel namens "Lasca". Er verfolgte auch die wissenschaftliche Entwicklung. Albert Einstein und Max Planck zählten zu seinen Freunden. Im südlich Berlins gelegenen Thyrow besass Lasker ein Sommerhaus. Seine Hoffnung auf Wohlstand, gesellschaftliche Anerkennung und ein geruhsames Alter hatten sich scheinbar erfüllt. Bis 1933.
Zwischenspiel in Moskau
Als die Nazis die Macht übernahmen, liessen Lasker und seine Frau alles hinter sich. Über die Niederlande gelangten sie nach England. Um den Unterhalt zu bestreiten, musste Lasker wieder spielen. Nach neunjähriger Turnierpause trat er 1934 in Zürich an und wurde Fünfter. Bald darauf wurden die Laskers nach Moskau eingeladen, wo sie eine geräumige Wohnung erwartete. Obwohl Lasker auf die siebzig zuging, behauptete er sich bei seinen letzten Turnieren gegen die Besten der Welt. Als sein Förderer und Volkskommissar Nikolai Krylenko während Stalins Säuberungen zum Tod verurteilt wurde, nutzte Lasker die erste Gelegenheit, die Sowjetunion zu verlassen.
Während seiner letzten Lebensjahre in New York hielt sich Lasker mit Schachunterricht, Spenden und Publikationen über die Judenfrage über Wasser. In "The Community of the Future" (1940) schlug er vor, den Juden Alaska für einen eigenen Staat zu überlassen. Wie so vieles, das Lasker im Lauf seines Lebens ausserhalb von Schach und Mathematik veröffentlicht hat, ist die Zeit rasch darüber hinweggegangen. Oder wie es Ulrich Sieg ausdrückt: "Nähert man sich einer Persönlichkeit wissenschaftlich, wird der Mythos zerstört."
Lasker-Gesellschaft
Aus gemeinsamen Jahren in Lübeck kennt Sieg die Politologen Michael Dreyer und Oliver Lembcke und den Germanisten Tim Hagemann. Nun haben sie einen Sammelband über Lasker vorgelegt. Durch ein Partygespräch hatte der Berliner Kulturmanager Paul Werner Wagner von der Gruppe erfahren. Wagner spielte gerade mit der Idee, das laskersche Sommerhaus zu retten. Mit Hilfe der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung hat er in Potsdam vor wenigen Wochen eine Konferenz über Lasker organisiert. Substanzielle Beiträge brachten neben Sieg und seinen Koautoren auch Robert Hübner, der das Klischee widerlegen wollte, Lasker habe eine psychologische Spielweise begründet.
Anlässlich des Treffens ist auch eine Lasker-Gesellschaft gegründet worden die Laskers Schriften veröffentlichen will. In ein paar Jahren will Wagner in Berlin ein Lasker-Turnier und am liebsten auch ein Schachmuseum etablieren. Was würde Adolf Lasker wohl dazu sagen?
Michael Dreyer, Ulrich Sieg (Hg.): Emanuel Lasker. Schach, Philosophie, Wissenschaft. Philo-Verlag Berlin 2001, 289 Seiten, kartoniert, 46 Fr.
Multitalent: Emanuel Lasker um die Jahrhundertwende.
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