Kolumne 3
Pillsbury, der Gedächtnisakrobat
In meiner zweiten Kolumne befasse ich mich mit einem Gedankengenie besonderer Art - mit H. N. Pilsbury. Im Laufe von Laskers langem Leben kamen und gingen seine Konkurrenten. Ausser Capablanca betrat niemand so plötzlich und mit so dramatischer Wirkung die Bühne wie Harry Nelson Pillsbury – der Held von Hastings. Er war schon zu Lebzeiten eine Legende, dieser gutaussehende, unbekümmerte, zigarrenkettenrauchende Amerikaner aus Sommerville im Staate Massachusetts. Der Mann mit dem unerschüttelichen Gleichmut und dem phänomenalen Gedächtnis. In den kaum zehn Jahren seiner Karriere tauchte dieser Nachfolger Paul Morphys die internationale Schachwelt in strahlendes Licht. Dann setzte bei ihm, wie bei Morphy ein geistiger Verfall ein. Doch Pillsburys Krankheit hatte körperliche, keine psychischen Ursachen.
Mit sechzehn lernte er die Grundbegriffe des Spiels, zeigte erstaunliches Talent, zog nach New York, liess sich als Dauerbesucher des Brooklyn Chess Clubs nieder, war mit neunzehn der stärkste Spieler Amerikas und beschloss mit zwanzig, Profi zu werden. Sein Ruf verbreitete sich mit Windeseile, und obwohl er noch keinerlei internationale Erfahrung besass, luden ihn die Engländer ein, am Turnier von Hastings 1895 teilzunehmen. Welch eine Versammlung gewaltiger Meister wartete dort auf ihn! Der neue Weltmeister Lasker war erschienen und ebenso sein Vorgänger Steinitz. Der in Rumänien geborene Wiener Altmeister Adolf Albin, kam aus New York. Damals galt Albin als bedeutender Theoretiker. Für Englands Ehre fochten Bird , Gunsberg und der gefürchtete Blackburne. Aus Paris kam Janowski, aus Deutschland von Bardeleben und der dreissig Jahre alteLeipziger Jacques Mieses (1865-1954), der damals ähnlich in die internationale Spitzengruppe vorstiess. Zu den Teilnehmern gehörte auch Carl Schlechter, der Remiskönig, und ebenso der deutsche Lehrmeister Siegbert Tarrasch. Der junge Richard Teichmann, der eine lange und ehrenvolle Karriere vor sich hatte, focht hier in seinem ersten bedeutenden Turnier. Aus Russland war Michail Tschigorin angereist, der als einer der Favoriten galt. Hinzu kam eine Anzahl geringerer Meister. Insgesamt war Hastings 1895 stärker besetzt als alle Turnier je zuvor.
Umgeben von solchen Berühmtheiten trat der unbekannte Pillsbury mit geziemender Bescheidenheit auf. Doch als er begann, die Giganten von ihren Thronen zu stürzen, sah er sich bald von der britischen Presse belagert. Er machte einen guten Eindruck. Journalisten schrieben, er sähe aus wie Lincoln, mit seiner markanten Nase, seinen hohlen Wangen unter hohen Backenknochen und seinem durchdringenden Blick."Mr. Pillsbury, hiess es in einer Beschreibung, " ist ausgesprochen angenehm und bescheiden im Umgang, der Idealtyp eines Amerikaners und ein gewaltiger Raucher.Er wirkt erstaunlich gelassen, sitzt am Schachtisch in bequemer Haltung und selbstbewusster Miene. Am Brett strahlte sein Gesicht eine absolute, kraftvolle Ruhe aus, nicht ein einziger Muskel bewegte sich, nur hin und wieder blinzelte er etwas mit den Augen.
Kurz nacheinander schlug er Albin, dann Mieses – und was die Zuschauer elektrisierte – Steinitz. Sein Kampfgeist war enorm! Erbarmungslos mähte er einen nach dem andern nieder. Schliesslich durchbrach Lasker die Siegesserie und Tarrasch meinte, Pillsbury habe auch in dieser Partie eine gewonnene Position gehabt. Nach dieser Runde lagen drei Spieler punktgleich an der Spitze: Lasker – Tschigorin und Pillsbury mit dreizehneinhalb Punkten. Am 28. August geriet die Tabellenspitze wieder in Bewegung. Pillsbury verlor gegen Schlechter, während Tschigorin remisierte und Lasker gewann. Doch in der nächsten Runde verlor Lasker gegen Tarrasch, während Pillsbury Tinsley schlug. Nun lag Tschigorin allein in Führung. Drei Runden waren noch zu spielen. Pillsbury triumphierte mühelos und dann kam ihm das Glück zu Hilfe: Tschigorin wurde nach nur sechzehn Zügen von Janowski zur Aufgabe gezwungen und Lasker unterlag dem "schwarzen Tod" Blackburne.
Die Entscheidung fiel am letzten Tag. Gunsberg wehrte sich verbissen, musste schliesslich die Ueberlegenheit Pillsburys anerkennen. Hier demonstrierte der Amerikaner den versammelten Meistern, dass er auch die Endspieltechnik souverän beherrschte. Lasker zeigte sich tief beeindruckt und schrieb von einer bemerkenswerten Kombinationsgabe. Nachdem Gunsberg den König umgelegt hatte erschallten Hochrufe nach britischer Manier – Pillsbury hatte Hastings gewonnen. Unerwartet war ein neuer, grosser Meister aufgetaucht. Die amerikanische Presse geriet in Ekstase...
Ungewöhnliches Talent besass er fürs Blindspiel und andere Gedächtniskunststücke. Vor Beginn seiner Blind-Simultanvorstellungen liess er sich z. B. fünfzig nummerierte Zettel geben. Jeder mit einem aus fünf Worten bestehenden Satz bedruckt. Er las die Texte, warf sie in einen Hut. Dann zog jemand die Zettel einer nach dem andern aus dem Hut, las die Nummer ab, und Pillsbury rasselte den dazugehörenden Satz herunter. Zwei Professoren in London versuchten ihn reinzulegen und stellten folgende Wortliste zusammen:
"Antiphlogestin, periosteum, takadiastase, plasmon, threkeld, strepptococcus, staphylococcus, mirococcus,plasmodium, Mississippi, Freiheit, Philadelphia, Cincinatti, athletics, no war, Etchenerg, American, Russian Philosophy, Piet Potgleter’s Rost, Salamagundi, Oomisillecootsi, Bangmamvate, Schlechter’s Neck, Manzinyama, theosophie, catechism, Madjesoomalops"
Pillsbury warf einen Blick darauf, gab die Liste zurück, sagte die Worte auf und wiederholte sie anschliessend rückwärts. Am nächsten Tag betete er die Wortungetüme nochmal herunter, um zu beweisen, dass er sie wirklich auswendig wusste. Um seine Finanzen aufzubessern nahm er jedes Angebot an, das mit Schach zu tun hatte. Nach Laskers Diagnose war Pillsbury gezwungen, sich körperlich und geistig zu verausgaben, um sein täglich Brot zu verdienen. Hätte der Meister von Hastings über ein zufriedenstellendes Einkommen verfügt, so hätte er sich nicht durch die geistige Ueberbelastung mit Blindsimultanvorstellungen gepaart mit Gedächtniskunststücken zugrunde gerichtet. Damit war Lasker bei seinem Lieblingsthema, der schwachen Gewinnbörse im Schach...
Pillsbury starb an einer Krankheit – damals der Wissenschaft noch völlig unbekannt – die er sich durch Ueberanstrengung seiner Gedächtniszellen zuzog. Im Juli 1906 trauerte Lasker in einer Ausgabe seiner eigenen Zeitschrift um "diesen jungen, grossen und liebenswerten Menschen..." von dem die Schachwelt sicher noch gerne viele brilliante Partien erhofft hatte.
So, das wär’s für diesmal Wolfgang
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